Familie Pergande & Westpommern

Heute erreichte mich ein berührender Gastbeitrag von Papi, den ich gebeten habe, einige Zeilen zur Familie Pergande und unserer Verbindung zu Westpommern zu verfassen. Einmal mehr bin ich mir des absoluten Privilegs bewusst, in einer freien und friedlichen Europäischen Union ohne Grenzen reisen, studieren und leben zu können. Obwohl ich die Zeit gerade sehr genieße, denke ich häufig an die Menschen in der Ukraine, für die das nicht selbstverständlich ist.

Brutzen – ewiger Sehnsuchtsort in Westpommern

Ein Gastbeitrag von Thomas Pergande

„Um Gottes willen, zum Polen, mit dem Fahrrad?!“ Anna Pergande schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, als ihr ihre Urenkelin Katharina die Reisepläne für den Sommer 2022 eröffnete. „Mädchen, was soll das?“

Ich bin mir sehr sicher, dass sich die Situation genauso mit meiner längst verstorbenen Großmutter abgespielt haben könnte. Meine Großmutter hielt nicht viel vom Verreisen. Das Wort Urlaub kannte sie eigentlich nicht. „Zuhause ist es doch am schönsten“, den Satz mussten wir uns alle häufig genug anhören. Sie hatte sich zwar daran gewöhnt, dass die nächsten Generationen das irgendwie brauchten. Wegfahren, andere Länder entdecken. Dass ihr Enkel mit seiner Freundin nach Frankreich fuhr, um dort zu zelten. Oder Tochter mit Schwiegersohn zum Skifahren nach Österreich musste. Irgendwie akzeptiert. Sie brauchte das jedenfalls nicht.

Der „Pole“ und der „Russe“ waren nach dem Krieg in der Familie nicht sehr wohlgelitten. Die Narben des Krieges und der Vertreibung bzw. „Flucht“ saßen tief unter der Haut und auf der Seele meiner Großeltern. Mein Großvater starb früher und hat das Ende des Kalten Krieges nicht mehr miterlebt. Die aktuelle Situation der Ukraine hätte ihn überhaupt nicht überrascht. Seine Meinung war: „Dem Russen kann man nicht trauen!“ Sein ewiges Mantra, wenn wir vor mehr als 50 Jahren Weltspiegel und Tagesschau guckten. Auf der anderen Seite hieß es aber auch: „Bloß nie wieder Krieg. Wie schön, dass Ihr im Frieden leben könnt.“

Dieses Bild wurde natürlich durch ihre Erfahrungen geprägt. Meine Familie väterlicherseits stammt aus einem Teil West-Pommerns, das heute zu Polen gehört. Der Geburtsort meines Vaters heißt Brutzen (Brusno) im Kreis Belgard-Schivelbein unweit der Stadt Bad Polzin. Letzteres ist bei dem einen oder anderen Deutschen als Kurort bekannt. Brutzen ist ein ehemaliges Rittergut – hierzu könnte sich mein Schwiegervater einbringen – und liegt inmitten der pommerschen Schweiz. Also im Hinterland und somit ein gutes Stück unterhalb der Route von Katharina und Lennart. Die nächsten Küstenorte sind Kolberg und Köslin.

Meine Großeltern wären niemals auf den Gedanken gekommen, nach dem Krieg noch einmal an diesem Ort vorbeizuschauen. Sie hatten damit komplett abgeschlossen. Als Flüchtlinge landeten sie auf einem Bauernhof im Norden Hamburgs (Lemsahl-Mellingstedt) und verbrachten dort den Rest ihres Lebens. In meiner Erinnerung habe ich das Gefühl, dass sie sich dort immer irgendwie unwillkommen gefühlt haben, sie im Grunde nie angekommen sind. Sie waren – wohl nicht nur im Selbstbildnis – „zugelaufene“ Flüchtlinge. Dennoch führten sie ein zwar bescheidenes, aber zufriedenes Leben und beklagten sich nie.

Allerdings lag mir mein Vater Erfried Pergande (Jahrgang 1939) ewig damit in den Ohren, seine alte Heimat mit mir besuchen zu müssen. In seiner Erinnerung war es wohl eine Art Paradies. Eine Sichtweise, die sicherlich nicht nur etwas verklärt war. Die Dorfbewohner arbeiten auf dem Gut als Landarbeiter. Immerhin soll einer der Urgroßväter es bis zum Brennmeister gebracht haben. Ansonsten dürfte das Gebiet zu den rückständigsten Gegenden des damaligen „Deutschland“ gehört haben. Ab und zu kam mir der zynische Gedanke, dass ohne Ausbruch des Krieges ich dort vielleicht auch mein Leben hätte verbringen müssen. Bildungs- und Aufstiegschancen dürften im dortigen System eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben.

Wie in den meisten Familien sprachen auch meine Großeltern eigentlich nie über den Krieg und die Vergangenheit in Pommern. Nur eine Verwandte, Tante Dora, die nach dem Krieg der Liebe wegen in Waren an der Müritz hängen blieb, hielt die Erinnerungen hoch. Doch auch sie ist mittlerweile verstorben und hat ihr Wissen mit ins Grab genommen. Eine meiner letzten Verwandten, ihre Tochter Renate, kennt bestimmt noch mehr Details als ich hier an dieser Stelle beschreiben kann. Das erinnert mich natürlich einmal mehr daran, mich endlich wieder bei ihr zu melden.

Tatsächlich war Tante Dora einer der Auslöser für die von meinem Vater sehnsüchtig erwartete Reise an seinen Geburtsort. Einige Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fuhren wir mit Dora und ihrem Mann über die Grenze nach Polen, um bei einem Tagesausflug die alte Heimat wieder zu sehen. Ich erinnere mich noch genau wie es war, als wir die Ortschaft Brutzen erreichten. Tatsächlich war die Landschaft sehr schön. Aber das Ensemble der alten Gebäude – vielfach Hütten – war in einem schrecklichen Zustand. Man darf jedoch nicht vergessen, dass auch die Polen, die nun in den ehemaligen Häusern der Deutschen wohnten, Umsiedler waren. Sie kamen ebenfalls aus anderen Regionen und wurden im großen Verschiebebahnhof Polens von Ost nach West „verfrachtet“. Und nun kamen Autos mit deutschen Kennzeichen um die Ecke. Ich hatte den Eindruck, dass die Bewohner etwas ängstlich aus Fenstern und Türen schauten. „Kommen die Deutschen zurück? Nehmen sie uns unser Land wieder weg?“ Irgendwie waren diese Menschen ja auch Vertriebene und vielleicht auch nie wirklich angekommen in ihrer neuen Heimat. Ich habe mich in dem Moment nicht wohl gefühlt.

Was blieb noch an Eindrücken. Eingeprägt haben sich die verwahrlosten und zweckentfremdeten Dorfkirchen. Ob die Polen sie wieder restauriert haben und sie ebenfalls im neuen Glanz erstrahlen, wie die stolzen Kirchen in Mecklenburg heute?

Natürlich erzählte Dora bei dieser Fahrt viel über die Vergangenheit. Folgende Fragmente sind nach der langen Zeit in Erinnerung geblieben:

  • Da die Männer noch im Krieg waren bzw. geblieben sind, mussten die Frauen die Flucht bei Herannahen der Roten Armee organisieren. Ich kann mir bis heute noch nicht wirklich vorstellen, wie stark meine Großmutter gewesen sein muss, um mit Kindern und den Alten alles zurückzulassen und zu flüchten. Dora und meine Großmutter haben neben den eigenen kleinen Kindern (meinen Vater und seine jüngere Schwester Helga) sich auch eines weiteren Kindes angenommen, das seine Verwandten verloren hatte. Sie heißt Gerda und lebt heute in Niedersachsen in der Nähe des Harz.
  • Von Dora erfuhr ich, dass der erste Fluchtversuch misslungen ist. Die Rote Armee holte den Treck ein und die Familien mussten wieder zurück in die Ortschaften aus denen sie kamen. Dort sollten sie unter anderem die Soldaten versorgen. Hängen geblieben ist aus den Erzählungen bei mir vor allem ein Bild. Frauen und Kinder mussten Pilze sammeln. Und zwar nicht nur körbeweise, sondern tatsächlich ganze Fuhrwerke mit Anhängern. Bis zum oberen Rand voll mit Pilzen. Ein unvorstellbares Bild, oder?
  • Natürlich haben die Frauen niemals erzählt, was ihnen ansonsten vielleicht an Leid widerfahren ist. Das würde wahrscheinlich auch unser aller Vorstellungskraft übertreffen.
  • Dagegen erzählte man immer wieder gern die Geschichte, wie die Rotarmisten die Kinder an den Füßen hochhielten und ausschüttelten. Sie wussten genau, dass alles, was wertvoll war (gerne Uhren), oft an und bei den Kindern versteckt wurde. Mein Vater meinte, er könne sich noch genau daran erinnern.
  • Schließlich mussten sie Pommern verlassen und sind in den Westen vertrieben worden. Die näheren Umstände sind mir nicht bekannt. Aber sie waren sicherlich so unangenehm, dass sich daraus auch das negative „Polenbild“ ableitete.

Kurz vor ihrem Tod besuchte Dora meine Großmutter noch einmal in dem Altenheim, in dem sie die letzten Tage ihres Lebens verbrachte. Mein Vater erzählte mir, dass sich die beiden Frauen wohl noch einmal ausführlich über die alte Heimat und die Vergangenheit ausgetauscht hätten. Meine Großmutter soll danach einen sehr zufriedenen und gefassten Eindruck gemacht haben und ist kurz nach diesem Gespräch verstorben. Ich nehme an, dass sie ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht hat.

Am Anfang dieser Zeilen stand meine Vorstellung davon, wie meine Großmutter auf den Plan der Fahrradtour von Katharina und Lennart reagiert hätte. Ich bin mir aber sicher, dass Anna Pergande am Ende die Idee doch für gut befunden hätte. Ohne es wahrscheinlich zu wissen, waren meine Großeltern in ihrem Herzen unbewusste Europäer, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass ihre Nachfahren in einem friedlichen Umfeld leben dürfen. Insofern gehe ich davon aus, dass Erich und Anna Pergande unseren Radreisenden von „oben“ alles Liebe und Gute auf ihrer Tour wünschen werden. Und das gilt natürlich auch für Katharinas Opa Erfried. Der würde sich garantiert riesig darüber freuen, wenn wir noch mal in Brutzen – einem der letzten Sehnsuchtsorte – vorbeischauen.

Vielleicht bei der nächsten Tour…

Wo liegt eigentlich Brutzen (heute Brusno)?

2 Kommentare zu „Familie Pergande & Westpommern

  1. Katharina, der ausführliche Beitrag deines Vaters hat uns stark beeindruckt, genauso wie deine täglichen Berichte. Toll, dass ihr uns so an eurem Abenteuer teilnehmen lasst.

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