Nach unserer sehr langen Fahrt von Mestia nach Tbilisi – insgesamt 10 Stunden – sind wir gestern Abend nur noch todmüde ins Bett gefallen. Ich hatte ehrlich gesagt noch einen kleinen Stadtschock – der Kontrast zwischen Swanetien und der pulsierenden Millionenmetropole Tbilisi könnte nicht größer sein, zumal hier im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten leider noch sehr viel Autoverkehr herrscht. Aber auf einer Walking Tour haben wir heute interessante, inspirierende und schöne Seiten von Georgiens Hauptstadt entdeckt.
Heute Vormittag machten wir uns zunächst auf eigene Faust auf den Weg und erkundeten die Gegend rund um den Rustaveli-Boulevard, eine Hauptstraße ähnlich den Champs-Elysées in Paris, auf der z. B. auch Georgiens Parlament liegt, vor dem interessanterweise die EU-Flagge weht. Ein Umstand, der uns schon vor vielen offiziellen Gebäuden aufgefallen ist! Die Mehrheit der Georgier wünscht sich auch den EU-Beitritt, aber die Regierungspartei (“Georgischer Traum”) ist wohl sehr durch Russland beeinflusst. In der Nähe unseres Hotels haben wir gestern noch ein solidarisches Hinterhof-Restaurant entdeckt, in dem explizit darum gebeten wird, Georgisch oder Englisch mit den Angestellten zu sprechen, kein Russisch! Die Kinder und jungen Menschen sprechen generell exzellentes Englisch – beispielsweise hat in Ushguli ein Junge im Grundschulalter die Zuteilung der ausländischen Passagiere an die Sammeltaxen organisiert – und Englisch hat Russisch als Fremdsprache in der Schule längst abgelöst. Andererseits lagen auf einem Bücher-Flohmarkt noch Ausgaben von “Mein Kampf” in der russischen Übersetzung aus und unser Fahrer gestern – laut eigenen Worten “unpolitisch” – entpuppte sich als Antisemit. Er hat uns gut und sicher gefahren und auch sonst Einiges über seine Sicht auf Georgiens Entwicklung erzählt. Ich hoffe nur für ihn, dass er keine Gäste aus Israel hat, denn Israelis scheinen hier viele Urlaub zu machen. Es sei nicht weit weg, schön, friedlich, und günstig im Vergleich zum Heimatland, erzählte uns eine israelische Familie in Adishi. Georgien ist wirklich ein Land voller Gegensätze!




Um 12 Uhr ging dann die Free Walking Tour am Freiheitsplatz los, der nicht weit entfernt von unserem Hotel liegt. Einst als Leninplatz bekannt, ziert heute eine goldene Statue des Heiligen Georg die Mitte des geschäftigen Platzes, der für die Georgier so wichtig ist, dass viele Kinder nach ihm benannt werden. Auch Überreste der Stadtmauer sind in unmittelbarer Nähe noch zu finden – sie liegen etwas unscheinbar unterhalb eines Subway-Restaurants.

Weiter ging es in Richtung Altstadt, die mich ein bisschen an die Altstadt von Kaunas erinnert – alles bröckelt ein bisschen vor sich hin, an vielen Ecken wird renoviert, aber irgendwie hat es trotzdem Charme. Hier lernten wir, warum so viele Häuser von außen Treppen haben, die an die Treppen von Hogwarts erinnern: in der Sowjetunion wurden die ursprünglichen Besitzer enteignet und der Wohnraum neu aufgeteilt. Diese kleinteilige Aufteilung ist bis heute geblieben.



Der Guide – Nika, etwa in unserem Alter und gebürtig aus Tbilisi – hob auch die Bedeutung der Balkone als Ort der Begegnung und Kommunikation hervor. Außerdem konnten über die verbunden Balkone BewohnerInnen zu Zeiten des Kommunismus’ vor Verfolgern flüchten. Durch einen Laubengang aus Weinreben, die hier übrigens fast jeden Balkon begrünen und aus denen viele Georgier ihren eigenen Hauswein herstellen, ging es zum einem Gebäude, das mich irgendwie an Hundertwasser erinnerte: der erst 2010 fertiggestellte Uhrenturm mit Marionettentheater. Die Inschrift an dem Gebäude sagt so viel wie: “Mögen deine Tränen nur fließen, während du Zwiebeln schneidest”.



Auch die älteste Kirche der Stadt bekamen wir zu Gesicht. Übrigens gibt es für die christlich-orthodoxen Kirchen eine Kleiderordnung: Männer müssen Schultern und Knie bedecken, Frauen Schultern, Knie und auch das Haar (und am besten einen Rock und keine Hose!). Aber wie unser Guide treffend bemerkte, er könne das “Patriarchat” (so werden die Obersten der orthodoxen Kirche in Georgien genannt) nicht ernst nehmen, sie seien gegen Gleichberechtigung in jedweder Form, aber würden gleichzeitig auch das neueste iPhone nutzen. Am Tor zum Patriarchat erzählte er uns auch ein bisschen was zur georgischen Sprache. Auf Georgisch heißt Georgien nämlich gar nicht Georgien, sondern Sakartvelo. „Sa-o“ = der Ort, wo … leben und „kartvel-i“ = die zentrale Region Georgiens. Mit Litauen hat Georgien ein Abkommen, sich gegenseitig mit dem landestypischen Namen zu adressieren, also Lietuva und Sakartvelo.
Nika brachte uns auch ein anderes Wort bei, shemomechama, das so viel heißt wie „ich habe nicht geplant, so viel zu essen, sondern habe aus Versehen mehr gegessen, weil das Essen so gut war“. Es gibt wohl noch mehr solcher Wörte – z.B. „es tut mir leid, dass ich den Bus verpasst habe, er fuhr so schnell davon“. Eine interessante Sichtweise ;). Das georgische Alphabet ist übrigens komplett individuell und wird in keinem anderen Land der Welt so oder in ähnlicher Form verwendet.


Zuletzt ging es zum kommerziellen Viertel, vorbei an Teppichhändlern, einer Statue eines Trinkers (vor der Sowietzeit wurde in Georgien wohl noch gesitteter getrunken und noch heute kann man zu besonderen Anlässen jemanden für Trinksprüche engagieren) und auch am Meidan, einem unterirdischen Basar, den wir später noch besuchten. Die Tour endete an den berühmten Badehäusern, denn Tbilisi liegt an einer Schwefelwasserquelle. Dies Badehäuser wurden auch nie zerstört, anscheinend mochten auch die Angreifer der Stadt gerne baden…






Jetzt geht es ins Bett, denn morgen besuchen wir u.a. Gori und die Höhlenstadt Uplistsikhe.