Derzeit lebe und studiere ich in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens. An vielen Fassaden finden sich kunstvolle, lustige, komische und auch inspirierende Graffitis. In den folgenden Beiträgen möchte ich meine Eindrücke davon mit Dir teilen.
#1: Die alte Dame
Ganz in der Nähe der Burganlage an der Landzunge zwischen Neris und Memel befindet sich dieses Kunstwerk einer alten Dame, die an einer riesigen Pfeife zieht. Dieses Graffiti hat mich zu folgenden Zeilen inspiriert.
Eines Tages entdeckte die alte Dame beim Aufräumen der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie 70 Jahre lang gelebt hatte, die Pfeife. An dieser Pfeife war an sich nichts Besonderes, sie hatte ihrem Bruder gehört, und nach seinem Tod war er in einer ihrer Schubladen verschwunden, vergraben unter Nähgarn, einer Sammlung einsamer Knöpfe und dem eleganten Hut ihrer Mutter, den sie lange sonntags getragen hatte, der ihr jetzt aber ein wenig aus der Zeit gefallen erschien.
Als sie die Pfeife in die Hand nahm, war ihr, als könne sie ihren Bruder riechen, und ein Duft nach Tabak, Rasierwasser und Kaffee stieg ihr in die Nase. Er war einige Jahre älter gewesen als sie, war zur See gefahren und hatte stets aus fernen Ländern Postkarten an sie geschrieben. „Mein liebes Schwesterlein, es grüßt dich herzlich aus XX dein Bruder. Unser Schiff hat gestern im Hafen angelegt. Das Essen hier ist so scharf, dass es einem förmlich die Zunge wegbrennt. Morgen geht unsere Reise weiter nach YY.“
Die alte Dame hatte in ihrem Leben noch nie etwas gekostet, das überhaupt den Hauch eines Brennens auf ihrer Zunge ausgelöst hätte, und sie war auch noch nie weiter als bis zur Ostseeküste gereist. Plötzlich überkam sie ein Anfall von – ja, was war es eigentlich? War es Schmerz über den Tod ihres Bruders, den sie noch immer sehr vermisste? War es Wehmut nach ihrer Jugend, die ihr schon so weit weg erschien? Oder war es etwa der Funke von Abenteuerlust, der so lange in ihr geschmort hatte?
Schwer atmend traf die alte Dame einen Entschluss. Sie schaute an sich herunter, als könnten ihre Augen den rosafarbenen Hausanzug mit Blicken töten (dabei war er doch so bequem, und seit sie das Haus nur noch zum Einkaufen verließ, war es aus ihrer Sicht vergebens, sich zurechtzumachen). Um dem Kiosk an der Bushaltestelle um die Ecke einen Besuch abzustatten, musste es reichen. Bevor sie aus der Haustür trat, setze sie ihre Brille mit den dicken Gläsern auf, denn ihre Sehkraft hatte in den letzten Jahren stark nachgelassen.
Als sie wieder zuhause angekommen war, zog die alte Dame die schweren Vorhänge im Wohnzimmer auf und mache das Fenster zu dem schmalen Balkon auf. Sie nahm die Pfeife von der Anrichte, kramte in der Schublade nach einem Pfeifenstopfer und einer Schachtel Streichhölzer, nahm den Tabak aus ihrer Manteltasche und setzte sich mit dem Rücken zur Sofalehne auf den Boden vor dem Fenster, das zum Balkon hinausführte.
Sie machte sich daran, die Pfeife vorzubereiten, so wie sie es für ihren Bruder getan hatte, wenn er zu Besuch gewesen war. Er hatte ihr häufig mit einem Augenzwinkern ein wenig Tabak zugesteckt, und als ihre Eltern längst im Bett gewesen waren, hatten sie sich gemeinsam mit der Pfeife auf den Balkon gesetzt und zusammen in den Sternenhimmel geschaut. „Schwesterlein, auch wenn es überall auf der Welt anders aussieht, riecht, schmeckt als hier, die Sterne sind auf meiner Seite der Erdhalbkugel dieselben wie auf deiner.“
Beim ersten Zug musste die alte Dame noch husten, aber mit jedem Einatmen ging ihr das Pfeife rauchen leichter von der Hand und es war, als würde sie mit jedem Einatmen ein wenig mehr von der Welt einsaugen. Sie erinnerte sich zurück an ihre frühen Erwachsenenjahre, an durchtanzte Füße, an ihre Arbeit als Sekretärin, an all die schönen Dinge, die sie in ihrer Heimatstadt erlebt hatte. Und sie dachte an die Postkarten ihres Bruders, in denen immer der Hauch eines Abenteuers mitschwang, und an das Hätte-Wäre-Wenn ihres Lebens, das sie schon so lange verfolgte.
Am nächsten Morgen befand sich eine elegant gekleidete und zurechtgemachte Dame höheren Alters unter den Passagieren von Flug TK1409 nach Istanbul. Sie trug einen schlichten blauen Hut im Stil der Vierzigerjahre, einen kleinen Koffer in der einen und eine unscheinbare Pfeife in der anderen Hand.
Nachtrag vom 15.09.2021: Wie sich inzwischen herausstellte, handelt es sich bei der alten Dame eigentlich um einen alten Herren und zwar um eine Darstellung des Künstlers George Maciunas. Ein Beweis dafür, dass die Intepretation von Kunst immer im Auge des Betrachters liegt ;). Wer mehr über die Street Art in Kaunas erfahren möchte, ist hier richtig.